Die 20-jährige Tochter von Maria N. lebt streng vergan und besucht viele Yoga-Retreats. Ihre Mutter muss viel Kritik einstecken. Wie können die beiden wieder zusammenfinden?
Liebe Frau Peirano,
ich bin 48 und habe eine 24-jährige Tochter (Nina), die ich überwiegend alleine großgezogen habe. Mit 20 ist sie ausgezogen und erst einmal lange durch die Welt (Indien, Lateinamerika) gereist. Dabei hat sie für sich Yoga und Meditation entdeckt. Mittlerweile ist der Yoga-Lifestyle zu ihrem Leben geworden.
Sie reist auf Retreats und fliegt dafür auch nach Goa oder Kroatien, obwohl sie sich immer über den Klimawandel aufregt. Sie isst streng vegan, und alle müssen sich nach ihr richten. Wehe, ich habe Butter, Eier oder Salami im Kühlschrank, dann gibt es lange Vorträge.
Mit dem Yoga legt sie auch übertriebenen Wert auf ihre eigenen Grenzen und Bedürfnisse. Dauernd geht es darum, was ihr gut tut, wann es ihr gut tut, was für sie “toxisch” ist und wovon sie sich fernhält. Auch vieles, was ich tue, ist mittlerweile toxisch, zum Beispiel dass ich abends gerne noch mal 1–2 Gläser Wein trinke und dazu eine Zigarette rauche.
Ich habe irgendwie das Gefühl, dass Nina sich für etwas Besseres hält. Sie achtet auf ihre Figur und trägt bauchfrei, damit man ihre Muskeln gut sehen kann. Das teilt sie auch recht freizügig auf Instagram. Auch in puncto Seele ist sie allen haushoch überlegen, zumindest meint sie das. Sie verurteilt es, dass andere Menschen über irgendetwas urteilen (“judgen”), lebt aber selbst in einer Blase von Gleichgesinnten, die alle tätowiert sind, Yoga machen, vegan leben und den gleichen unausgegorenen Quatsch von sich geben. Und wer anders ist, gehört nicht dazu. Ist das nicht auch urteilen?
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich finde Frieden und Ausgeglichenheit und Hilfsbereitschaft und so weiter sehr wichtige Werte! Aber ich lebe sie halt auf meine Weise, zum Beispiel indem ich meinen Beruf als Krankenschwester ernst nehme und den Patienten zuhöre. Oder mal abends für meine Schwester babysitte, damit sie mal frei hat.
Nina und ich geraten häufiger aneinander, wenn sie hier zu Besuch ist. Ich verliere mehr und mehr den Anschluss an sie und kenne kaum noch Freunde von ihr. Früher waren wir mal sehr eng und ich kannte ihre ganzen Freundinnen, die ständig bei uns waren und gerne mit mir geredet haben.
Es ist etwas deprimierend, und ich frage mich, was ich tun kann, damit wir wieder mehr Nähe bekommen können.
Herzliche Grüße
Maria N.
Liebe Maria N.,
ich höre eine große Traurigkeit und auch etwas Frustration heraus, weil Ihre Tochter und Sie im Moment in zwei völlig unterschiedlichen Welten leben und wenig Gemeinsamkeiten haben.
Hat Ihre Tochter sich in der Pubertät hinreichend von Ihnen abgegrenzt und rebelliert? Oder waren Sie als Mutter-Tochter-Duo sehr harmonisch und eng miteinander? Könnte es sein, dass Ihre Tochter jetzt eine Art späte Pubertät erlebt mit dem Leitsatz “Meine Mutter ist doof und ihr Leben auch?”
Ich komme auf diese Vermutung, weil ich in Ninas Verhalten sehr viel Rebellion, Abwertung und Selbstbezogenheit erkennen kann. All diese Eigenschaften sind ja typisch für die Abgrenzung von den Eltern. Nur wer seine Eltern eine Weile lang richtig doof (langweilig, nervig, spießig, altmodisch etc.) findet, schafft es, sich von ihnen zu lösen und sich abzunabeln. Auf lange Sicht ist dieser Prozess ja sehr gesund und führt hoffentlich (!!!) zu einer Annäherung auf erwachsener Ebene.
Meistens ist diese Phase für die Eltern extrem anstrengend und auch traurig, denn wer mag schon gerne von seinen Kindern als doof, langweilig, nervig, spießig, altmodisch etc. angesehen werden, nachdem er oder sie jahrzehntelang auf viel Freiheit und viele Abenteuer verzichtet hat, um den Kindern ein sicheres, stabiles, verlässliches Zuhause zu bieten? Das ist natürlich ungerecht, frustrierend und darüber hinaus undankbar.
Etwas skurril ist es, dass Ihre Tochter sich gerade Yoga und Meditation als Instrumente ausgesucht hat, um ihre Ich-Bezogenheit zu kultivieren. Denn eigentlich sind Yoga und Meditation jahrtausendalte Praktiken, die dabei helfen sollen, das eigene Ego zu verringern, mehr Mitgefühl und Verbundheit mit allen anderen Wesen zu entwickeln, friedlicher in sich selbst zu ruhen und demnach auch mehr Frieden zu säen.
Wussten Sie, dass das, was heute als “Yoga” bezeichnet wird, also die körperlichen Übungen oder Asanas, nur eine Art Fußnote in der Yogaphilosophie waren? Eigentlich bestanden die Yoga-Praktiken aus Meditation, Atemübungen, Ernährung, selbstlosem Dienen (sogenanntem Karma-Yoga, bei dem Yogis unentgeltlich der Gemeinschaft oder ihren Lehrern halfen), dem Studieren der heiligen Schriften (Jnana-Yoga: Weg des Wissens) und dem Yoga der Verehrung (Bhakti-Yoga), bei dem Mantren gesungen und Götterstatuen im Sinne von Pujas, also heiligen Zeremonien, gesegnet wurden.
Die Yogastellungen (Asanas) waren dazu gedacht, den Körper beweglich und schmerzfrei zu halten, um überhaupt in der Lage zu sein, beim Meditieren lange sitzen zu können. Und bauchfreie Tops hat man auch nicht dabei getragen, da in vielen Yogaschulen Askese gefordert wurde.
In den letzten zwanzig Jahren ist die ungefähr 3500 Jahre alte Yogapraxis stark verändert und dabei sehr an die Bedürfnisse der modernen westlichen Menschen angepasst worden. Dabei ist Yoga oftmals von einer Praxis der Hingabe zu einer Dienstleistung geworden. Ein kleines Beispiel: Es gibt spirituelle Yogaschulen, in denen die LehrerInnen unentgeltlich unterrichten und die SchülerInnen nicht wählen können, wer sie unterrichtet. Die Philosophie dahinter war es, sich anzupassen und mit dem zu arrangieren, was man bekommt. (So ist das Leben.)
Heutzutage ist das so gut wie undenkbar. Jede/r Yogaschüler möchte den besten Unterricht bei dem Lehrer, mit dem es die besten “Vibes” gibt, und die Stunde wird hinterher auch am besten noch bewertet. Und wir verpflichten uns selbstverständlich nicht mehr einem bestimmten Lehrer und dienen selbstlos in seinem Studio, sondern wir bezahlen für die Dienstleistung und nutzen gerne auch Online-Yoga, bei dem wir kaum Kontakt zu dem/der Lehrerin haben und jederzeit abschalten können, wenn uns die Stunde auf die Nerven geht.
Oft wird Yoga auf die äußerlichen Effekte wie Muskelaufbau oder Straffheit reduziert und damit Eitelkeit (Ego!) und Konkurrenz erzeugt. Natürlich leidet der innere Effekt darunter, wenn der äußere Rahmen nur darauf abzielt, es uns möglichst angenehm zu machen. Natürlich nutzt jeder Praktizierende das Yoga so, wie es ihm oder ihr guttut. Und viele Menschen bemühen sich mithilfe von Yoga und der Mediation ernsthaft und erfolgreich um mehr Ausgeglichenheit, inneren und äußeren Frieden, weniger Ego und mehr Verbundenheit.
Aber es gibt auch viele Nischen, in denen Yoga auf eine Art “Hindu-Aerobic” reduziert wird und dazu dienen soll, seine Bedürfnisse möglichst schnell zu erfüllen und gut auszusehen.
Das vorausgeschickt, geht es jetzt um Ihre Frage, wie Sie möglicherweise mehr Kontakt und Verbundenheit zu Ihrer Tochter bekommen können. Im Moment hört es sich ja etwas nach einem kalten Krieg darüber an, welche Lebensform besser ist: Wein und Zigarette oder Chai mit Hafermilch und Yoga in Goa.
Haben Sie schon mal versucht, in die Welt Ihrer Tochter einzusteigen und sie zu fragen, was für Yoga sie eigentlich macht? Haben Sie vielleicht sogar schon einmal mit ihr zusammen eine Yogastunde gemacht? Das wäre zumindest einen Versuch wert. In der Therapieausbildung sagt man immer: “Sprich die Sprache deines Patienten”. Wer gut mit Katzen kann, blinzelt sie freundlich an und gibt ihnen Zeit, sich von alleine zu nähern. Dadurch fühlt die Katze sich verstanden.
Probieren Sie es doch einmal aus, gemeinsam mit Ihrer Tochter zum Yoga zu gehen oder Online Yoga zu machen. Ich kann mir vorstellen, dass es verbindet, gemeinsam etwas zu erleben und die gleichen Bewegungen zu machen. Oder lesen Sie sich ein und überraschen Sie Ihre Tochter mit Ihren eigenen Gedanken zum Thema Yoga.
Für einen Yoga-Überblick eignen sich zum Beispiel folgende Bücher:
“Das große Yogabuch”von Anna Trökes
Oder zum Thema Meditation:
“Im Alltag Ruhe finden: Meditationen für ein gelassenes Leben” von Jon Kabat-Zinn
Sie könnten sich ja Gedanken darüber machen, woran man sehen oder spüren würde, dass Yoga einem Menschen persönlich etwas bringt. Vielleicht wäre dieser Mensch gütiger, ruhiger, friedlicher, klarer, mitfühlender?
Wenn Sie mehr Kontakt mit Ihrer Tochter haben und etwas in ihre Welt einsteigen durften, könnten Sie ihr vielleicht auch spiegeln, wie sie auf Sie wirkt: etwas unruhig, urteilend, auf der Suche nach Mehrwert. Das könnte interessant werden.
Angenommen, Sie hätten selbst eine Art Meditations- oder Yogapraxis für sich, dann könnten Sie glaubwürdiger mit Ihrer Tochter darüber sprechen.
Falls Ihre Tochter wirklich eine Art späte Pubertät durchmacht, wäre es wichtig, dass Sie sich sagen, dass es noch eine Weile dauern kann, bis das, was Sie jetzt säen, Früchte trägt. Mir erzählen viele Mütter, dass Ihre Töchter erst Jahre nach der Pubertät zugeben konnten, dass ihre Mutter doch in vielem Recht hatte. Und optimalerweise kann man dann gemeinsam darüber lachen.
Versuchen Sie doch, mit Ihrer Tochter in Kontakt zu bleiben und ihr ehrlich zu sagen, wie Sie sich fühlen. Und zwar am besten, ohne gleich eine passende Reaktion zu erwarten. Das kann, wie gesagt, etwas dauern.
Vielleicht ist genau dieser Art von Kontakt dann etwas, woran sie seelisch wachsen werden. Das ist jedenfalls auch ein Bestandteil der fernöstlichen Spiritualität: Alles, was uns begegnet, ist unser Lehrer (oder Guru). Auch der nervig schleichende Autofahrer vor mir ist mein Guru, weil er mir ermöglicht, gelassener und geduldiger zu werden.
Sie haben jetzt in Ihrer Tochter auch einen Guru, an dem Sie über sich hinaus wachsen können. Nehmen Sie es doch als Herausforderung.
Herzliche Grüße
Julia Peirano
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