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Jessamyn Stanley macht Nacktyoga – um gegen die Klischees in der Yogaszene anzugehen

Jessamyn Stanley macht Nacktyoga – um gegen die Klischees in der Yogaszene anzugehen

Jessamyn Stanley liebt und lebt Yoga. Eine Sache, die für die amerikanische Yogalehrerin lange Zeit nicht vorstellbar war. Der Grund: Sie ist dick, queer und schwarz. Attribute, die in der klassischen Yogaszene eher selten vorkommen. Ein Gespräch über eine neue Perspektive auf den Lifestyle-Sport – und das Leben. 

Sie haben sich trotz des oberflächlichen Images der Branche für eine Tätigkeit als Yoga-Lehrerin entschieden und sind auf Social Media auch für Ihre freizügigen Yoga-Sessions bekannt – Sie zeigen sich dabei auch gerne mal komplett nackt. Was bedeutet Ihnen das Ganze?

Jessamyn Stanley: Ich definiere Yoga als Einheit, als Vereinigung. Es geht darum, die verschiedenen Teile von uns selbst miteinander in Einklang zu bringen. Es gibt so viele verschiedene Teile von uns, die ständig miteinander in Konflikt zu stehen scheinen. Beim Yoga können wir durch Bewegung, Atemarbeit und Meditation lernen, diese Dinge zu vereinen. Für mich geht es beim Yoga also nicht nur um das Üben von Posen auf einer Matte, es ist viel mehr als das. Yoga findet in jedem einzelnen Moment des Lebens statt. Für mich ist alles Yoga.

Das klingt sehr absolut.

Ist es auch. Meine kraftvollsten Momente der Yogapraxis finden auch nicht auf einer Yogamatte statt und haben oft nichts mit dem Üben von Stellungen zu tun. Und meine wichtigsten Yogalehrer sind nicht diejenigen, die sich als solche bezeichnen. Meine stärksten Yogalehrer sind meine Liebespartner, meine Freunde und meine Familie.

Yoga für dünne, weiße Frauen?

Woher kommt diese tiefe Leidenschaft für Yoga?

Mit Anfang zwanzig habe ich eine wirklich schwere Zeit durchgemacht. Ich war damals sehr deprimiert. Eine Freundin hat dann mit Bikram-Yoga angefangen und gefragt, ob ich nicht auch mal mit in einen Kurs kommen möchte. Ich war allerdings alles andere als begeistert und sagte zu ihr: “Das mache ich nicht. Das ist nur etwas für dünne, weiße Frauen.”

Wie kamen Sie darauf?

Während der Highshool überredete mich meine Tante schonmal, einen Yogakurs zu machen – und da war genau das die Realität. Ich hasste es einfach und habe entschieden, einen großen Haken hinter die Yoga-Geschichte zu machen. Aber meiner Freundin ist es dann doch gelungen, dass ich dem Ganzen noch einmal eine Chance gebe. Heute kann ich sagen: zum Glück.

Was ist beim zweiten Anlauf passiert?

Eigentlich handelte es sich bei beiden Yogakursen um den gleichen Yogastil. Es waren beides Bikram-Yoga-Kurse – und die laufen normalerweise immer gleich ab: Man übt dieselben 26 Haltungen zweimal 90 Minuten lang, der Raum hat dabei etwas mehr als 100 Grad. Ich nenne sie deshalb auch gerne das McDonald’s des Yoga. Was beim zweiten Mal aber anders war, war ich. Mir war nicht klar, wie sehr ich die Wärme gebraucht hatte und diese neue Herausforderung. Neben der Tatsache, dass die Übungen anfangs enorm schwerfielen, ist mir aber noch etwas anderes aufgefallen: Ich war eine der wenigen Dicken in dem Kurs und eine der einzigen Schwarzen. Es gab also nicht viele, die aussahen wie ich. Und ich hatte das Gefühl, jeder hat mir angesehen, dass ich nicht weiß, was ich tue. Das war ein entfremdendes Gefühl.

Eine neue Perspektive auf Yoga

Warum sind Sie trotzdem am Ball geblieben?

Beim Bikram-Yoga sieht man sich während der Übungen selbst in Spiegeln an. Dafür muss man wissen, dass es damals mein größter Alptraum war, meinen Körper bewusst anzuschauen. In der Yoga-Stunde hatte ich aber keine andere Wahl. Und natürlich hatte ich Angst, mich zu blamieren. Aber mir ist in diesem Moment bewusst geworden, dass ich mein Leben in die Hand nehmen muss, wenn ich es wirklich leben möchte. Mir wurde klar, dass ich mir nicht nur eingeredet habe, dass ich kein Yoga kann, sondern mir auch sonst selbst oft im Weg stand. Also habe ich diesmal bewusst gesagt: Ich mache es trotzdem.

Mal allgemein formuliert: Was bringt Yoga?

Yoga kann uns helfen zu verstehen, dass Veränderungen im Leben immer kommen werden und einen Umgang damit zu etablieren. Anstatt sich darüber zu ärgern, dass die Dinge nicht so laufen, wie man es sich wünscht, lernt man Akzeptanz. Vielleicht kann man sich irgendwann sogar mit ihnen anfreunden und sich von ihnen anregen lassen, neue Wege zu gehen. Außerdem hilft Yoga uns, uns selbst besser zu verstehen.

Und wo liegen die Grenzen der Praxis?

Ich würde behaupten, dass es keine Grenzen für eine Yogapraxis gibt. Es kommt natürlich darauf an, wie man das Ganze lebt. Wenn man Yoga so versteht, wie ich es tue – als ganzheitliche Art, das Leben zu betrachten und Möglichkeit, sich selbst wertschätzend zu begegnen – dann bereichert Yoga das eigene Leben.

Atmen ist Yoga, Yoga ist Leben

Für viele Menschen ist Yoga entweder Humbuk oder ein Lifestyle-Sport. Was ist Ihrer Ansicht nach das größte Missverständnis?

Ich glaube, dass es etwas mit dem Aussehen zu tun hat. Ich schreibe es in meinem Buch und betone es, wo immer es möglich ist: Yoga ist buchstäblich für alle da. Jeder kann – und sollte – es praktizieren. Streng genommen tun wir es auch alle bereits als Säuglinge, wir verlernen es nur oftmals. Bewusstes atmen und wahrnehmen der Umgebung ist auch eine Form von Yoga. Wenn wir dann wachsen, lernen wir, in welchen Positionen sich unser Körper wohlfühlt, wir atmen tief durch, wenn uns etwas stresst und so weiter. Auch das ist Yoga. Es ist so individuell wie wir Menschen.

Jeder hat also seine eigene Yoga-Praxis?

Genau. Ich sage das so deutlich, weil wir ja noch immer meistens dünne und sportliche Menschen vor Augen haben, wenn es um Yoga geht. Oftmals sind sie weiß – und überwiegend weiblich. All das sind Stereotype, die dafür sorgen, dass sich viele Menschen ausgeschlossen fühlen. Dabei ist es eigentlich so simpel: Wenn du atmen kannst, kannst du auch Yoga praktizieren.

Wie genau Yoga für alle aussehen kann, haben Sie in Ihrem Buch noch einmal deutlich ausführlicher erläutert. Welche Botschaft möchten Sie damit in die Welt senden?

Was ich meinen Lesern anbiete, ist eine neue Perspektive – und vielleicht den Mut und die Freiheit, man selbst zu sein, wild und frei und widersprüchlich und kompliziert und chaotisch. Jedes Leben ist wertvoll und kein Mensch sollte sich dafür entschuldigen müssen, wie er oder sie aussieht.

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