Elon Musk möchte das ehemalige Twitter ausbauen: »In den kommenden Monaten werden wir umfassende Kommunikation sowie die Möglichkeit hinzufügen, Ihre gesamte Finanzwelt zu verwalten«, kündigte der Milliardär und Investor an. Daher auch die Umbenennung von Twitter, denn die Plattform X werde künftig eine »Everything-App«. So bezeichnen sich Applikationen, die diverse Dienste unter einem einzigen Banner vereinbaren. Als Vorbild sieht Musk WeChat. Von der chinesischen Allround-Plattform schwärmt er: »Wenn wir so etwas erreichen oder uns dem auch nur annähern können mit Twitter, wäre das ein riesiger Erfolg.«
Das 2011 von Entwicklern des chinesischen Multikonzerns Tencent entworfene WeChat gilt als weltweiter Vorreiter in Sachen Everything-App. Auf der Plattform können User fast ihr ganzes digitales Leben führen. Neben einer Chatfunktion kann man hier auch Kinotickets buchen, in Finanzprodukte investieren, Nachrichten lesen, Unternehmenskontakte herstellen und Deals abschließen, Arzttermine buchen, Auslandsvisa beantragen und vieles mehr. Im Google-Playstore beschreibt sich die Plattform selbst als »ein Lifestyle für mehr als eine Milliarde User rund um die Welt«.
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Damit ist WeChat der mit Abstand größte Anbieter, der diverse Dienste vereint. Der Einzige ist er aber nicht. Gerade in Ost- und Südostasien hat sich das Modell einer Everything-App längst etabliert. In Japan dominiert Line jene Geschäftsbereiche, die WeChat in China weitgehend kontrolliert. Auch Line existiert seit 2011, anfangs als Messaging-Anbieter, der im Vergleich zu Whats-App die einfallsreicheren Smileys und Sticker bot. Im eigenen Line-Konto können Nutzerinnen heute unter anderem auch digitale Impfpässe aufbewahren und Klamotten kaufen.
In Südkorea wiederum heißt der Platzhirsch, der seit 2010 auf dem Markt ist, Kakao. Das Fintech-Unternehmen bietet auch Gaming und Musikstreaming an. In mehreren Ländern Südostasiens werden einige dieser Dienste von Grab übernommen – die einstige Taxiplattform ermöglicht heute unter anderem auch Essens- und Einkaufslieferung. Grab bezeichnet sich selbst als »The Everyday Everything App«.
Ob auch X so eine Entwicklung gelingen kann, ist ungewiss. Dan Prud’homme, Wirtschaftsprofessor an der Florida International University, bezweifelt, dass eine solche App von US-amerikanischen Nutzern sonderliche Wertschätzung erfahren würde. Gegenüber der »New York Times« sagte er, die Verbraucher seien »an Single-Service-Apps gewöhnt, was Multi-Service-Apps etwas verwirrend macht«. Außerdem: »US-Kunden mögen das Gefühl nicht, für ihre täglichen Aktivitäten zu sehr von einem einzigen Dienstleister abzuhängen.«
Welche Nachteile eine allzu starke Abhängigkeit haben kann, wird in Ostasien deutlich. Als im Oktober 2022 ein Datenzentrum von Kakao brannte, wurden weite Teile der südkoreanischen Wirtschaft lahmgelegt. In dem 52-Millionen-Einwohner-Land zählt Kakao 43 Millionen monatliche User, die die App eben auch geschäftlich nutzen. Als diverse Dienste plötzlich nicht mehr funktionierten, war der Ärger so groß, dass sich sogar der Präsident einschaltete.
In China gibt es vor allem Probleme mit dem Datenschutz. Rechtsexperten in Deutschland warnen im Geschäft mit Klienten aus der Volksrepublik davor, den Kontakt über WeChat laufen zu lassen. Neben mangelnder Verschlüsselung gebe es immer wieder Beschwerden in Sachen Zensur sowie der Herausgabe von Daten an staatliche, öffentliche, regulatorische, gerichtliche und Strafverfolgungsbehörden, erläutert die Beratungsfirma Dr. Datenschutz. Auf WeChat könne auch der chinesische Staat mitlesen.
Solche Vorkommnisse schaden potenziell auch Anbietern aus demokratisch regierten Staaten, weil dies Verbraucher insgesamt vorsichtig machen dürfte. So haben es das US-amerikanische X sowie mögliche Wettbewerber aus Europa schwer, etwas Ähnliches aufzubauen. Außerdem ist das Kartellrecht in den USA und der EU meist strenger als etwa in China, sodass App-Anbieter, die mehrere Dienste zugleich anbieten, sich schnell dem Vorwurf des Marktmissbrauchs ausgesetzt sehen dürften, sobald sie sich eine dominante Stellung erarbeitet haben.
Ein Verbot von Everything-Apps lässt sich daraus aber nicht ableiten, wie Luis Mejía, Experte für Regulierungsbehörden an der Hertie School in Berlin, meint. Ein Problem entstehe erst dann, »wenn die Macht auf einem Markt es einem Unternehmen erlaubt, den fairen Wettbewerb auf anderen Märkten zu unterbinden«. Dies lasse sich aber vermeiden, wenn ein Anbieter als Plattform agiert, auf der andere Betriebe ihre Dienste offerieren können.
Eine Plattform hochzuziehen, auf der die User ganz verschiedene Funktionen nutzen können, ist allerdings schwierig. Laut einer Analyse des Finanz-IT-Experten Akshay Chopra haben alle erfolgreichen Everything-Apps drei Gemeinsamkeiten: eine große Zahl von Usern, technische Expertise und daher eine positive Nutzungserfahrung sowie ein hohes Maß an Vertrauen durch die User.
In dieser Hinsicht sind die globalen Platzhirsche der Digitalökonomie – ob Google, Apple oder Facebook – jedem europäischen Unternehmen weit voraus. Und einige von ihnen begeben sich längst auf den Weg zu einer Everything-App: Amazon ist vom digitalen Kaufhaus zum Anbieter digitaler Streamingdienste avanciert. Facebook hat sich in Meta umbenannt, um künftig ganz neue Dienste anzubieten.
Im Kleinen sind solche Versuche auch in Europa zu beobachten. Der schwedische Bezahldienst Klarna hat in mehrere Betriebe investiert, um auch zu einer allgemeinen Shopping-App zu werden. Das estnische Taxi-Start-up Bolt bietet mittlerweile Scooter-Dienste und Carsharing an sowie Essenslieferung. Das ukrainische Privat24 hat rund um Finanzdienste einen ähnlichen Weg eingeschlagen.
Dies sind zwar alles keine Everything-Apps, aber zumindest Anbieter, die thematisch zusammenhängende Dienste vereinen. Vielleicht könnte man sagen: Many-Apps.
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