Ein feiner Nieselregen fällt auf den Kopf von Immanuel Kant. Die steinerne Büste des deutschen Philosophen überblickt die Piazza Carlo Alberto dalla Chiesa im Zentrum von Solomeo. Hier, direkt gegenüber dem kleinen Schloss, in dessen Turm die Erfolgsgeschichte von Brunello Cucinelli begann, hat der Firmengründer einen der wichtigsten Grundsätze seiner Unternehmensphilosophie an einer Hauswand verewigt. Die „Selbstzweckformel“, die zu Immanuel Kants „kategorischem Imperativ“ zählt. Sie untersagt es, andere Menschen als bloßes Mittel zu gebrauchen. Philosophie, das wird an diesem Tag deutlich, ist für Brunello Cucinelli und sein Unternehmen von zentraler Bedeutung. Sie hat seine Geschichte bestimmt.
Brunello Cucinelli steht für höchste Handwerkskunst, feinste Materialien und einen unverkennbaren Stil. Hier, im Herzen Italiens, entstehen Kollektionen für Damen, Herren und Kinder sowie Brillen, Düfte und Lifestyle-Gegenstände. Begonnen hat alles in den Achtzigerjahren mit bunten Kaschmirpullovern für Damen. Geblieben ist der Ansatz, hochwertige Kleidungsstücke herzustellen, die die italienische Handwerkskunst widerspiegeln und für das absolute Luxussegment bestimmt sind. Das ist Cucinellis Erfolgsrezept: Den Umsatz konnte das an der italienischen MTA notierte Unternehmen in zehn von elf Jahren seit Börsengang kontinuierlich steigern. Nur 2020 war er, dem Corona-Effekt geschuldet, leicht rückläufig.
Das Dorf des Kaschmirs und der Harmonie
Bevor Franz Führer mit Brunello Cucinelli zusammentrifft, führt ihn sein Rundgang durch Solomeo. „Das Dorf des Kaschmirs und der Harmonie“, wie der Gründer es nennt. Es ist untrennbar mit der Marke verbunden. Das Wappen des Dorfes ist das Logo des Unternehmens. 1985 entschied Cucinelli, das Unternehmen nach Solomeo zu verlegen. Mit viel Aufwand und Liebe zum Detail restaurierte er Gebäude und Plätze. Beim Rundgang öffnet sich eine schwere Holztür, hinter der steile Stufen hinauf in das erste Büro des Unternehmers führen. Ein wunderschöner, heller Raum, dessen Fenster den Blick in die grünen Täler Umbriens eröffnen.
Der Blick nach oben zeigt Zitate von Cicero, Dante und Seneca, die an der hohen Decke verewigt wurden. An der Wand hängen Fotos von der letzten Reise der Familie in die Mongolei. Von den dort lebenden Hirten-Gemeinschaften bezieht die Firma den Kaschmir für ihre Strickwaren über ihren traditionellen Lieferanten Cariaggi Lanificio S.p.A.
Auffällig ist, dass es weder hier noch in Cucinellis neuem Büro, im Tal des Dorfes, einen Computer gibt. Stattdessen liegen viele in Leder gebundene Notizbücher auf dem großen Tisch. Mit großen Buchstaben hat Cucinelli darauf notiert, was in welchem Buch steht. Er kommt noch immer hierher, um ungestört zu arbeiten und zu lesen.
Einen Steinwurf entfernt befindet sich das „Teatro Cucinelli“, auf dessen Bühne Ballettaufführungen, Theaterstücke oder Konzerte gezeigt werden. Die alten Mauern des Dorfes beherbergen auch die „Academia“ – sicher auch das kein zufälliger Anklang an die Akademie des von Cucinelli verehrten griechischen Denkers Platon. Sie erinnert an das Lesezimmer eines Bibliophilen. Auf Regalen und dem Boden türmen sich Bücher, manch ein Stapel reicht Franz Führer fast bis zur Brust. Die Tür der Bibliothek steht tagsüber offen: Jeder darf sich ein Buch ausleihen oder den Flügel, der sich in dem hellen Raum befindet, nutzen.
Die Bücher aus der Academia werden bald ein neues Zuhause bekommen: Weiter unten im Ort entsteht eine neue Universalbibliothek, ein weiteres Herzensprojekt Brunello Cucinellis. Im alten Ortskern wird auch die nächste Generation der Handwerkskünstler ausgebildet. An der „School of Contemporary High Craftsmanship and Arts“ lernen Männer und Frauen das anspruchsvolle Handwerk, das es braucht, um feine Stoffe und Materialien zu verarbeiten. Solomeo ist ein Gesamtkunstwerk.
Es passt perfekt zu dem Lifestyle, den die Marke und ihre Produkte verkörpern, und ist mit bemerkenswerter Liebe zum Detail gestaltet worden. Das zeigen nicht zuletzt die Sessel im Teatro Cucinelli, die statt im typischen Dunkelrot in edlem Beige bezogen sind – die für die Marke Brunello Cucinelli typische Farbe.
Zwischen Erling Haaland und Jeff Bezos
Franz Führer trifft Brunello Cucinelli in dessen neuem Büro im Tal, direkt über den Produktionshallen. In einer Ecke des Raumes steht ein Tisch. Darunter stapeln sich Fußbälle, die in bedeutenden Spielen zum Einsatz kamen – und natürlich jede Menge Bücher. Darüber steht eine Auswahl gerahmter Fotografien sowie persönlicher Briefe bekannter Persönlichkeiten. Ein gerahmtes Foto zeigt Cucinelli neben Amazon-Gründer Jeff Bezos. Wie viele andere Stars und Persönlichkeiten ist auch der Tech-Unternehmer schon Gast in Solomeo gewesen. Gwyneth Paltrow war ebenso hier wie Cameron Diaz und der Profi-Fußballer Erling Haaland.
Mario Draghi, Politiker und ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank, lud Cucinelli 2021 als Referenten auf den G-20-Gipfel in Rom ein. Ein Foto im Regal zeigt den strahlenden Cucinelli vor den Flaggen der Staaten-Gruppe. Daneben steht auch eine Erinnerung an den Börsengang des Unternehmens am 27. April 2012, eine mit Kaschmir gefüllte Glasröhre. Darauf ist unter anderem der damalige Ausgabepreis vermerkt: 7,75 Euro pro Aktie. Heute notiert die Brunello-Cucinelli-Aktie auf einem Niveau von rund 100 Euro.
Brunello Cucinelli begrüßt Franz Führer mit großer Begeisterung. Er freut sich besonders, wenn Besucher aus Deutschland vorbeischauen. Deutschland war das erste Land, in dem er Kaschmirpullover verkaufte. „Deutsche standen in dem Ruf, sehr professionell zu sein und immer pünktlich zu zahlen. Da ich damals über keine großartigen Reserven verfügte, entschied ich mich, in Deutschland Handelspartner zu finden“, lacht er verschmitzt.
Brunello Cucinelli ist fröhlich, er redet schnell und spricht mit ansteckender Begeisterung. Und er ist vor allem unprätentiös. „Ich brauche immer ein Stück Papier vor mir“, verkündet er zu Beginn des Gesprächs. Das nutzt er sofort, um eine Pyramide zu zeichnen, anhand derer er dem Gast die Positionierung seiner Marke verdeutlicht.
„Wir haben uns von Kaschmirprodukten zu einem Lifestyle entwickelt“, sagt er. Die Zielgruppe ist klein. „Wir haben kaum so viele Kunden wie Perugia Einwohner“, scherzt Cucinelli. Die Kunden schätzen die Produkte als anspruchsvoll und geschmackvoll und honorieren gleichzeitig das auf Nachhaltigkeit sowie gesundes Wachstum ausgelegte Geschäftsmodell.
Was Nachhaltigkeit und Exklusivität gemeinsam haben
Was Nachhaltigkeit für ihn bedeutet, verdeutlicht der Gründer an seinem Anzug, einem Set aus einer der eigenen Kollektionen: „Man kann diesen Anzug ewig tragen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eines meiner Kleidungsstücke entsorgt.“ Er nimmt seine Armbanduhr ab und zeigt sie Franz Führer. Es ist eine Patrimony der Schweizer Uhrenmarke Vacheron Constantin. Das Gehäuse aus Gelbgold zeigt die besondere Patina, die Lieblingsstücke bekommen, die viel getragen werden. „Es geht darum, Exklusivität zu schaffen. Von dieser Uhr wird jedes Jahr nur eine kleine Stückzahl gefertigt, es ist echte Schweizer Handwerkskunst. Man könnte mehr Uhren produzieren, aber man hält die Zahl bewusst klein“, führt er aus.
Genau um diese Art Exklusivität und nicht verwässerte Konzepte wie „Desirability“ geht es auch Cucinelli. Auch Brunello Cucinelli könnte mehr Stores eröffnen oder eine Linie mit erschwinglichen Accessoires lancieren. Aber das schließt er energisch aus: „Von uns wird man kein Armband mit dem Firmennamen drauf kaufen können.“ Franz Führer fasst es so zusammen: „Luxus bedeutet für Cucinelli, sich von anderen abzuheben – und das Unternehmen nachhaltig wachsen zu lassen.“
Auf den Balkon vor seinem Büro tritt immer wieder eine kleine Gruppe junger Menschen. Sie halten Stoffe ins Tageslicht, diskutieren, fühlen deren Beschaffenheit. Dass die Mitarbeitenden hier im Büro zusammenkommen, ist Cucinelli wichtig und gehört zu einigen anderen Prinzipien, an denen die Arbeit hier ausgerichtet ist. Der Tag beginnt um 8.00 Uhr. Niemand muss sich einstempeln, Cucinelli vertraut den Mitarbeitern, die er „denkende Seelen“ nennt. Es gibt 90 Minuten Mittagspause. Der Tag endet für alle um 17.30 Uhr. Danach muss niemand mehr erreichbar sein, am Wochenende ist es nicht erwünscht, sich mit der Arbeit zu beschäftigen.
„Remote zu arbeiten ist bei uns nicht möglich“, sagt Brunello Cucinelli. „Das ergibt ein Ungleichgewicht zwischen den Menschen in der Produktion und denen im Büro. Ich liebe außerdem den persönlichen Kontakt. Gerade habe ich fünf Minuten mit sieben Menschen gesprochen und wir hatten zwei großartige Ideen.“
1.200% Rendite in 20 Jahren?
„Ich bin gefordert, stetig verantwortungsvoll zu wachsen“
Den Börsengang hat Cucinelli damals auch angestoßen, weil er der Überzeugung ist, dass börsennotierte Unternehmen beständiger sind. „Ich bin meinen Aktionären verpflichtet und gefordert, stetig verantwortungsvoll zu wachsen.“ Um das sicherzustellen, hat er Langlebigkeitsregeln aufgestellt. Diese verbieten gieriges oder arrogantes Handeln und fördern den Geist der Veränderung.
Dazu zählt, dass der CEO alle 12 bis 15 Jahre wechseln sollte. Zurzeit hat das Unternehmen zwei CEOs, Brunello Cucinelli ist Executive Chairman und Creative Director. Seine zwei Töchter arbeiten ebenfalls im Unternehmen. An ihren Büros, in denen sie kreativ an den neuen Kollektionen arbeiten, kommt Franz Führer auf dem Weg in die Produktion vorbei.
Hier kann er sehen, wie die Prototypen neuer Stücke gefertigt werden und die Ware, die in externen Werkstätten produziert wurde, auf Fehler geprüft wird. Große Fenster geben den Blick in die Design-Abteilungen frei, in denen schon an Details der neuen Kollektionen gearbeitet wird. Es herrscht eine anregende Atmosphäre, man fühlt sich wohl. Genau das, was sich Brunello Cucinelli für einen Arbeitsplatz wünscht.
Als sich Franz Führer vom Firmengründer nach einem intensiven Austausch verabschiedet, hat dieser einen besonderen Wunsch: „Verfasst den Text über uns mit etwas Poesie.“ Und man kann nicht anders, als sich zu fragen, ob es nicht immer einen Hauch Poesie beinhaltet, über dieses besondere italienische Unternehmen und seine Philosophie zu schreiben.
„Dieser Text wurde uns freundlicherweise von Lupus Alpha zur Verfügung gestellt und stammt aus dem aktuellen leitwolf-magazin“. Link zum aktuellen Magazin: leitwolf 10.
Interview mit Brunello Cucinelli:
„Ich möchte wertvolle Produkte erschaffen, ohne der Schöpfung Schaden zuzufügen“
Das Konzept des humanistischen Kapitalismus ist das Fundament des Unternehmens. An ihm ist alles ausgerichtet. Im Gespräch mit Franz Führer berichtet Brunello Cucinelli über die Kernthesen dieser Idee, seine Liebe zur Philosophie und wie sich neue Technologien damit vereinbaren lassen.
leitwolf: Was hat Sie zu Ihrer Idee eines humanistischen Kapitalismus inspiriert?
Brunello Cucinelli: Ich wuchs in einer Bauernfamilie auf. Wir hatten kaum Geld, keine Elektrizität und kein fließendes Wasser. In unserem Haus wohnten 13 Familienmitglieder. Wir lebten in Einklang mit der Natur. Ich erinnere mich an diese Zeit als eine außergewöhnlich schöne. Sie war geprägt von individuellen Routinen und Aufgaben. Hier habe ich verstanden, dass es eine Balance zwischen dem Erzielen von Gewinnen und einem Geben an die Gemeinschaft geben muss. Auf Geheiß meines Großvaters gaben wir jedes Jahr nach der Ernte den ersten Ballen Weizen an die Gemeinschaft ab. Das ist einer der Eckpfeiler des humanistischen Kapitalismus, den wir hier in Solomeo begründet und entwickelt haben.
Gab es in Ihrem Leben weitere Schlüsselerlebnisse?
Cucinelli: Als ich 15 Jahre alt war, entschieden sich meine Eltern, in die Stadt zu ziehen. Das bedeutete für uns viele neue Annehmlichkeiten wie einen Telefonanschluss, Heizung und sogar Fernsehen. Aber ich vermisste die Verbindung zur Natur. Mein Vater fand Arbeit in einer Fabrik. Abends hörte ich, wie er davon berichtete, dass seine Arbeitgeber ihn gedemütigt hatten. Ich sah Enttäuschung und Ärger in seinem Gesicht, die Tränen in seinen Augen. Das werde ich niemals vergessen. Und obwohl ich damals noch keine Idee hatte, wohin mich mein beruflicher Weg einmal führen würde, wusste ich in diesem Moment ganz genau, was ich anders machen wollte.
Und was war das?
Cucinelli: Ich wollte in Zukunft für die Achtung der wirtschaftlichen und moralischen Menschenwürde leben und arbeiten. Heute glaube ich an eine Form des zeitgenössischen humanistischen Kapitalismus, bei dem ein fairer Gewinn angestrebt wird, indem man versucht, der Schöpfung und der Menschheit so wenig Schaden wie möglich zuzufügen. Ich stelle mir eine umfassende Nachhaltigkeit vor, die materielle und geistige Werte umfasst. Einen realen Ort, an dem Umwelt, Wirtschaft, Kultur, Technologie, Geist und Moral nebeneinander bestehen und sich im Konzept der menschlichen Nachhaltigkeit ergänzen. Diese Überzeugung spiegelt sich überall in unserem Unternehmen wider. Ich möchte wertvolle Produkte erschaffen, ohne der Schöpfung Schaden zuzufügen.
In Solomeo findet man überall Elemente der Philosophie. Welche Rolle spielt diese für Sie?
Cucinelli: Die Philosophie begleitet mich schon lange. Sie ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Mein erster Berührungspunkt war die Bar Gigino, in der ich als Jugendlicher problemlos meinen ganzen Tag verbringen konnte – und das auch gern tat. Dort trafen sich Bauarbeiter, Studenten und Menschen wie ich, die einfach Zeit hatten. Die Studenten diskutierten über philosophische Konzepte und so wurde meine Neugier darauf geweckt. In einer italienischen Bar findest du immer jemanden, der Lust hat, sich deine Geschichte anzuhören. Es ging neben der Philosophie um alle möglichen Themen des Alltags und ich bezeichne die Bar als meine „Universität des Lebens“. Nirgendwo habe ich mehr gelernt.
Welche Rolle spielt Technologie für Sie und Ihr Unternehmen?
Cucinelli: Technologie schafft neue Möglichkeiten. Aber ich bin überzeugt, dass spezialisierte Fachkräfte in drei bis vier Jahren das Doppelte verdienen werden, da künstliche Intelligenz ihre Aufgaben nicht übernehmen kann. Vieles in unseren Kollektionen wird in anspruchsvoller Handarbeit hergestellt. Das sind Arbeitsschritte, die noch sehr lange menschliche Expertise erfordern werden. Wir übertragen unser ganzheitliches Markenkonzept auch in den digitalen Raum. Wir wollen die humanistischen Kunsthandwerker des Internets sein, indem wir, wie die alten Humanisten es auch taten, unsere Gedanken auf neue Weise ausdrücken, um damit die Zukunft zu bereichern. Die Beziehung zu unseren Kunden ist und bleibt vom individuellen Kontakt geprägt. Wir müssen keine Daten über sie sammeln, denn wir kennen sie – viele sogar persönlich. Italienische Gastfreundschaft ist Teil unserer Markenkultur. Diese schaffen wir zum Beispiel über individuelle Einkaufserlebnisse in unseren sieben exklusiven Case Cucinelli weltweit.
Was möchten Sie noch erreichen?
Cucinelli: Ich bin von dem starken Verlangen getrieben, dass mein Leben, wenn es endet, nicht nutzlos für die Schöpfung war. Das steht für mich an oberster Stelle. Oft sagen die Leute zu mir: „Brunello, du könntest die Gewinne eures Unternehmens doch ganz einfach vervielfachen.“ Das möchte ich aber gar nicht. Ich möchte ethische Gewinne erzielen und mit unseren Projekten in Solomeo der Region und ihren Menschen etwas zurückgeben.
Über den Interviewten:
Brunello Cucinelli wurde 1953 in Castel Rigone im italienischen Umbrien geboren. Ein Studium der Ingenieurswissenschaften brach er ab und widmete sich, inspiriert vom kleinen Kurzwarengeschäft der Eltern seiner heutigen Frau Federica, der Produktion von Kaschmirpullovern. 1978 gründete er die Aktiengesellschaft Brunello Cucinelli S.p.A. und bezog sein erstes Büro am Firmensitz in Solomeo, wo er und seine Familie bis heute leben.