Die Frühgeschichte der Menschheit legt nahe, dass es nicht immer die Europäerinnen und Europäer waren, die sich auf der Welt breitgemacht haben. Und anderen Zivilisationen den Garaus. Anthroposophisch gesehen haben europäische Menschen vor vierzig tausend Jahren von jenen eins auf die Mütze bekommen, die sich parallel zu ihnen in Afrika entwickeln konnten. Denn irgendwann stellte sich heraus, dass eben nicht der Neandertaler, sondern der Homo Sapiens das genetische Erfolgsmodell Mensch darstellt.
Das hielt die unterschiedlichen Evolutions-Fabrikate aber nicht davon ab, eine Zeitlang zu koexistieren, das eine oder andere Techtelmechtel miteinander zu betreiben – und damit ihr Erbgut zu vermischen. So können wir heute mit Sicherheit sagen: Ein bisschen Neandertaler steckt immer noch in einigen von uns und kann sogar unsere Haut-, Haarfarbe und Verhaltensmuster beeinflussen. Das wissen wir, weil wir inzwischen ihr Erbgut entschlüsselt haben. Also eigentlich haben das Sven Pääbo und sein Genetik-Team gemacht. Seit 25 Jahren wird am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie (MPI EVA) im Leipziger Zentrum-Südost das erforscht, was den Menschen zum Menschen macht. Dazu zählt auch das Erbgut unserer Vorfahren. Zwar ist der Neandertaler nach dem ersten Fundort östlich von Düsseldorf benannt. Durch die Leistung des Max-Planck-Instituts in Leipzig könnte der Name dieses Vorfahrens inzwischen aber auch getrost nach westsächsischer Prämisse Muldentaler oder Rosentaler lauten.
Der Neandertaler ist heute ein Rosentaler
Sven Pääbo, der dafür verantwortliche Direktor für Evolutionäre Genetik, ist zwar kein Ursachse, aber seit der Bekanntgabe seines Medizinnobelpreises der Liebling des wissenschaftlichen Leipzigs. Geboren 1955 in Stockholm, könnte man fast sagen, dass das Nobelpreistragen wiederum bei ihm eine genetische Angelegenheit ist: 1982 erhielt sein Vater Sune Bergström ebenfalls den Medizinnobelpreis. Pääbos Ehrung ist jedoch mitnichten einfach nur eine Fortführung des elterlichen Geschäfts. Im Prinzip gelang ihm, so begründete das Nobelkomitee die Entscheidung Anfang Oktober, was zuvor schlichtweg fast unmöglich klang: die Entschlüsselung des Erbguts eines ausgestorbenen menschlichen Vorfahrens. Und damit ein Fass ohne Boden an Erkenntnissen hinsichtlich der Frage, wo wir herkommen und wie wir zu dem wurden, was wir heute sind.
Pääbos Selbsteinschätzung des eigenen bisherigen Lebenswerks klingt da etwas weniger überschwänglich, fast schon skandinavisch zurückhaltend: “Neandertaler sind die engsten Verwandten des heutigen Menschen. Vergleiche ihrer Genome mit denen heutiger Menschen sowie mit denen von Menschenaffen ermöglichen uns zu bestimmen, wann genetische Veränderungen bei unseren Urahnen eintraten.”
Wie es sich für eine Koryphäe gehört, war Pääbos Lebenslauf alles andere als geradlinig: Noch vor dem Studium besuchte er eine Dolmetscherschule, seine anschließenden Studienfächer waren mannigfaltig: Ägyptologie, Russisch, Wissenschaftsgeschichte und, auf Anraten seines Vaters, auch Medizin – allerdings ohne klinischen Teil und damit ohne Abschluss. Zumindest drei dieser Fächer passten zu seinem geglückten Vorhaben, als Doktorand die DNA eine Mumie zu klonen.
Was macht das MPI EVA?
Das Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie kennen die Besuchenden das Leipziger Zoos durch eine berühmte Außenstelle: Das Pongoland, das eigentlich Wolfgang-Köhler-Primaten-Forschungszentrum heißt und in dem – backstage sozusagen – Menschenaffen beobachtet werden. Das wird am MPI EVA aber auch in freier Wildbahn getan. Ebenfalls in freier Wildbahn werden DNA-Spuren aus unserer Vergangenheit gesammelt. Seit seiner Gründung 1997 beschäftigt sich das Institut mit unserer Evolutionsgeschichte und hat seinen Sitz auf dem Bio Campus im Zentrum-Südost. Es ist eines von drei MPI in Leipzig. Neben Primaten und Genetik gilt ein besonders Augenmerk unserer Kultur(rellen Evolution).
Zum Forschungsteam des MPI EVA in Leipzig gehört Pääbo seit dessen Gründung 1997. Letztendlich waren es die Fortschritte in der Gensequenzierung, die es ihm und seinem Team ermöglicht haben, nach ersten kleinen Erfolgen in den Neunzigern bis 2014 ein nahezu vollständiges DNA-Konvolut zum Neandertaler vorzulegen. Ab dann dauerte es nicht lange, bis es schlagzeilenfähige Erkenntnisse hagelte: Zum Beispiel sind Menschen mit Neandertaler-Gen schmerzempfindlicher. Schmerzempfinden ist beim Menschen vom Alter abhängig – Menschen mit Neandertaler-DNA empfinden Schmerzen so, als wären sie in etwa acht Jahre älter. Ein anderes Neandertaler-Gen sorgt indes offenbar dafür, dass Frauen fruchtbarer sind, weniger Fehlgeburten und weniger Blutungen haben. Also: bessere Karten hinsichtlich einer möglichen Schwangerschaft.